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Wer von euch ohne Schuld ist,...

Eine Mutter ruft mich an und bittet um Hilfe. Sie erzählt mir, was passiert ist: Wie jeden Abend räumte sie die Küche auf und lüftete dabei das Wohnzimmer, während ihr Mann den zweijährigen Sohn im Badezimmer bettfertig machte. Dabei entwischte der kleine Kerl dem Vater. Haben Sie Kinder? Dann kenne Sie das sicher auch: Da kommt die Zahnbürste, der Waschlappen mit Seife - und schon versuchen die Kurzen zu verschwinden.

Der kleine Junge lief ins Wohnzimmer, kletterte auf die Couch, die unter dem Wohnzimmerfenster steht, dann auf die Fensterbank. Im Wohnzimmerfenster ist ein Fliegengitter im Rahmen gespannt. Dass das keinen Halt bietet, weiß ein zweijähriges Kind nicht. Der Vater lief dem Sohn hinterher, sah ihn auf der Fensterbank stehen, mit dem Gesicht zu ihm. Er lächelt seinen Papa an: "Hey, hier bin ich! Mich kriegst du nicht!" Dann fiel er im dritten Stock rückwärts aus dem Fenster.

Beide Eltern liefen auf die Straße, wo sie ihren Sohn schwer verletzt fanden. Die Mutter hielt ihn im Arm, bis der Krankenwagen kam. Der Vater war ebenfalls dabei. Im Krankenhaus dann die erste Entwarnung. "Ja, er ist schwer verletzt, aber stabil." Einige Stunden später stehen zwei Notfallseelsorger vor der Tür: der kleinen Sohn ist doch gestorben.

Das war vor einer Woche. Am Telefon sagt mir die Mutter jetzt: "Ich komme mit dem Verlust und dem Schmerz nicht klar und würde am liebsten selbst sterben, da ich meinen kleinen Schatz so wahnsinnig vermisse. Der Schmerz über seinen Verlust ist für mich und meinen Mann unerträglich. Warum ist das passiert? Wie sollen wir ohne unseren kleinen Sonnenschein weiterleben? Können sie mir helfen?"

Mein erster Gedanke ist: "Wie traurig, wie schrecklich!" Ja, schrecklich, was für ein furchtbarer Schreck! Der zweite Gedanke: "Was kommt nun auf die Eltern zu?" Viele der trauernden Eltern, die ich kennenlerne, haben Schuldgefühle, weil sie denken, dass sie auf ihr Kind - selbst wenn es schon fünfundzwanzig Jahre alt ist - nicht "aufgepasst" haben. Das denken sogar häufig Eltern, deren Kinder an Krebs gestorben sind, obwohl Außenstehende ihnen sagen: "Da kannst du doch nichts für!"

Was werden diese Eltern nun fühlen? Und wie wird über sie geurteilt werden? Wir reden, wir schreiben, wir treffen uns.

 

Fünf Wochen später erhalte ich im Urlaub eine Notfallmail von der Mutter: "Heute geht es mir sehr schlecht! Jemand war wegen einer Besprechung hier und sagte dann direkt, er könne nicht verstehen, wie man so unverantwortlich sein kann und ein Fenster öffnen kann. Mit anderen Worten: ich habe wohl das Fenster geöffnet und meinem Sohn den Weg in den Tod geebnet. Seit dieser Aussage bin ich wieder völlig fertig. An Tagen wie diesen ist der eigenen Lebenswille gleich Null. Was macht man da in so einer Situation? Haben sie einen Tipp für mich?"

Ich lese diese Mail und muss nachdenken. Ich sage mir: was haben mein Mann und ich bisher für ein Glück gehabt, dass unseren Kindern nichts schlimmes zugestoßen ist! Ist es unser verdientes Glück? Haben wir beide unsere drei Söhne immer behütet, sie auf Schritt und Tritt bewacht und sie deshalb bisher vor dem Tod bewahrt? Sind wir die "guten" Eltern?

Ich spreche mit meinem Mann darüber. Ja, wir haben natürlich versucht, unsere Kinder in Geborgenheit und Sicherheit aufwachsen zu lassen. Wir haben als verantwortungsbewusste Eltern unseren Kindern aber auch den Freiraum zum "Leben üben" gegeben. Manchmal bedeutet "Leben üben" für kleine Kinder, für Jugendliche und Erwachsene: "No Risk - no fun." Doch normalerweise ist es ein Minirisk und ein Riesenfun, dem Vater zu entwischen, aufs Sofa und die Fensterbank zu klettern und dabei diebischen Spaß zu haben. Zu ahnen, dass man geschnappt, gedrückt und geschimpft und zurück ins Badezimmer geschleppt wird. Ja, so sollte die Geschichte ausgehen. Leider war es nicht so.

 

"Aber man muss auch auf seine Kinder aufpassen! Sie können einem doch nicht einfach aus dem Badezimmer entwischen! Das wäre mir nicht passiert!" - "Man lässt doch keine Fenster offen stehen, wenn sich kleine Kinder in der Wohnung aufhalten." Das und ähnliches haben die Eltern immer wieder gehört.

Ich erzähl von  mir, aus meiner eigenen Familie, aus der Kindergartenleitungszeit und unserem Bekanntenkreis, was Eltern so alles passiert, ohne Namen zu nennen, denn ich glaube, dass viele den einen oder anderen Moment kennen:

Ein Kindergartenkind wird ins Krankenhaus eingeliefert. Es hat die große Packung "Mon Chérie" alleine aufgegessen.

Ein zweijähriges Mädchen klettert nach dem Mittagsschlaf auf einen Stuhl, um sich vom Schrank eine große Flasche Hustensaft zu ergattern und auszutrinken, während die Eltern oben im Haus eine Wand tapezieren.

Ein kleiner Junge fällt mit dem Kindersitz aus dem Auto, weil die Mutter im Kinder- und Einkaufsstress den Sitz nicht befestigt hat.

Ein Baby fällt von der Wickelkommode. Die Mutter hat sich nur einen Moment umgedreht.

Ein Kind macht sich von der Hand los und läuft auf die Straße.

Ein anderes Kind steht auf der Straßenkreuzung, während sich die Eltern angeregt mit Freunden unterhalten.

Wieder ein anderes fällt in den Teich.

Spielt mit einem Küchenmesser.

Und ein achtjähriger Junge winkt vom Baugerüst vor dem Fenster im zweiten Stock in einen Konferenzraum hinein. Der Vater sitzt währenddessen auf der Parkbank und liest ein Buch.

Ein anderes Kind öffnet die Autotür während der Fahrt - oh, vergessen, die Kindersicherung nach dem Besuch der Schwiegereltern wieder einzuschalten!

Was haben wir Eltern oft Glück gehabt! Sind wir deswegen weniger "schuld" als die Eltern, deren Junge aus dem Fenster gefallen ist? Wer darf Menschen schuldig sprechen?

"Wer von euch ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein.", heißt es in der Bibel. Eigentlich immer noch gesellschaftsfähig, dieser Satz.

Dieser Besuch der Familie, der es unverantwortlich findet, das Fenster zu öffnen, ist er noch nie übermüdet oder abgelenkt Auto gefahren? Die gelbe Ampel zu spät registriert, das Licht nicht eingeschaltet? Während der Fahrt telefoniert, den Seitenblick auf der Autobahn vergessen, die Autotür ohne Nachschauen schwungvoll geöffnet? Beim Skifahren von der Piste abgekommen, auf einem Berg einen Stein runtergekickt?

Ja, die Eltern des Jungen trauern, vermissen ihn, sehnen sich nach ihm, fragen sich immer und immer wieder: Warum? Manchmal finden sie vorübergehend eine Antwort, manchmal nicht. Es ist für Außenstehende sicher schwer, nicht ein vorschnelles Urteil zu fällen. Aber wem steht das Richten, das Urteilen zu? Jenen, die bisher einfach nur Glück hatten, das ihnen in einer ähnlichen Situation bisher nichts passiert ist? Oder denen, die sich tatsächlich niemals in einer solchen Situation befanden? Die, die alles immer nur "richtig" gemacht haben? Was richten sie aber jetzt mit ihrem Urteil an?

Die Eltern des kleine Jungen sind Trauernde, genau so wie andere Eltern, deren Kind verstorben ist. Und Schuldige, obwohl die Polizisten und alle, die mit der Familie vertraut sind, sagen, es träfe sie keine Schuld?

Es ist nicht einfach, oder?

 

Geschichten, die das Leben erzählt,

weil der Tod sie geschrieben hat

 

Mechthild Schroeter-Rupieper

 

erschienen im PATMOS Verlag

ISBN 978-3-8436-0882-4

 

Das aktuelle Exemplar ist so gut wie vergriffen, im Sept. 2022 erscheint ein neuer Band mit

vielen neuen Geschichten mitten aus dem Leben.

 

 

Ich wünsche euch viel Freude

beim Lesen, Philosophieren & gemeinsam ins Gespräch kommen.

 

Herzlichst - eure Barbara

 

Unbezahlte Werbung - selbst gekauft & von Herzen gerne weiterempfohlen.